Einleitung
Seit der Aufklärung steht fest, dass ein demokratisches System einer
Verfassung bedarf. Schon im indogermanischen Sprachgebrauch bedeutete
Souveränität, über seinen eigenen Hals verfügen zu können - also ein freier
Mensch zu sein. Eine Gemeinschaft souveräner Menschen ist eine von freien
Menschen unter Gleichen. Dies ist notwendig auch eine friedliche
Gemeinschaft, in der Fragen und Konflikte im Diskurs ausgetragen werden. Das
Recht auf eine Verfassung ergibt sich aus diesem Recht auf personale
Souveränität. Eine Verfassung, die sich das Volk selbst gibt, legt die
Regeln und Grenzen fest, innerhalb derer die Politik handeln kann. Sie ist
Ausfluss personaler Souveränität und Grundlage eines demokratischen Systems.
Verfassung und
Grundgesetz
Es wird immer wieder behauptet, wir hätten eine Verfassung. Deutschland hat
jedoch nur ein Grundgesetz. Der Unterschied ist wichtig. Viele wichtige
Entscheidungen vollzogen die Parteien ohne Mitwirkung des Volkes. Beispiele
sind militärische Einsätze auch im Ausland, Migration, Verschuldung, die
Aufgabe der Währungshoheit und viele andere Fälle. Immer wenn das
Grundgesetz politischen Plänen im Weg stand, wurde es geändert, übergangen
oder einfach beiseite geräumt. Das war möglich, weil Entscheidungen über
Form und Inhalt des Grundgesetzes in der Hand der Politik liegen. Es gibt
keine eindeutige Bindung der Politik. Sie entscheidet, ob und wie sie das GG
verändert. Das wäre bei einer Verfassung nicht möglich, denn eine Verfassung
kann sich nur ein Volk geben und damit hat auch nur das Volk das Recht, die
Verfassung zu ändern. Der Weg vom Grundgesetz zur Verfassung ist deshalb
kein inhaltsleerer Begriffswechsel, sondern ein elementarer Machtwechsel.
Souveränität -
Grundrecht
Personale Souveränität und Verfassung sind grundlegend für eine Demokratie.
Eine Verfassung kann nur vom Volk erlassen werden, denn die
verfassunggebende Gewalt des Volkes ist eine selbst über jede Verfassung
erhabene Kraft. Sie ist die Verfassung schaffende Kraft sui generis. Sie ist
keinem ihr vorausgehenden Konzept unterworfen. In einer Demokratie ist die
Verfassung der grundlegende Ordnungsrahmen für Parteien, Religionen und auch
Regierungen und Verwaltungen.
Das Volk steht als
Souverän vor und über der Verfassung. Es ist ‚der Souverän‘, wenn es über
die Verfassung entscheidet. Mit ihr wird politisches Handeln legitimiert und
es werden die grundlegenden Regel- und Machtfragen eines Landes demokratisch
festgelegt. Das bedeutet auch, unser Grundgesetz ist kein dauerhafter Ersatz
für eine deutsche Verfassung. Demokratie legitimiert sich erst, wenn ihre
Verfassung vom Volk durch ein demokratisches Verfahren in Kraft gesetzt
wird.
Auch der Staat
wird erst durch das Volk im Rahmen einer Verfassung legitimiert. Seit der
Aufklärung bedarf eine Gemeinschaft in der Bestimmung ihrer Ordnung keiner
Rückführung auf Religionen oder sonstige Rechte und Werte. Für Ihre
Legitimation ist die Verfassung der formale und strukturelle Rahmen. Der
normative Geltungsanspruch für eine ‚Verfassung vom Volk‘ ist darin
begründet.
Verfassung
legitimiert politische Macht
Derzeit ist der Einfluss des Volkes auf Wahlen begrenzt. Machtpolitisch –
aus Sicht von Parteien – ist dies erwünscht, aber dies ist gegen eine
demokratische Ordnung gerichtet. Der Ausschluss politischer Mitwirkung des
Volkes ist demokratiefeindlich und auch sachlich nicht gerechtfertigt. Dies
ist durch Wahlen nicht zu heilen. Für eine Demokratie ist das Wahlrecht
allein als Grundlage demokratischer Legitimation für politisches Handeln
unzureichend. Auch freie Wahlen müssen auf den Ordnungsrahmen einer
Verfassung rückführbar sein. Wahlen sind substantiell indifferente Aussagen,
ohne Verbindlichkeit für politische Praxis. Die wird erst mit einer
Verfassung geschaffen, wie sie z. B. in der Bundesrepublik und in der EU
noch nicht gegeben ist.
Fehlende
Legitimation wird durch Zeitdauer nicht geheilt. Behauptungen, dass sich das
GG bewährt habe oder es sei von den Bürgern und Bürgerinnen nachträglich
akzeptiert, sind scheinlegitimierend. Fest steht: Der Akt der Schaffung
einer Verfassung durch das Volk ist bisher unterblieben. Dies stellt einen
gravierenden Mangel an Legitimation für die Demokratie und in Folge für eine
rechtsstaatliche Ordnung dar. Die fehlende Verfassung bewirkt einen
politischen Ausschluss der Willensbildung des Volkes in der Bundesrepublik.
Dies führt zur Verselbständigung des Parteiensystems. Sie wird durch
politische Propaganda und scheinlegitimierende Behauptungen nur verdeckt.
Unwahrheiten, Missbrauch und Verkrustungen politischer und medialer Macht
sind unvermeidliche Folgen. Unser Land hat sich durch das Fehlen einer
Verfassung zu einer Feudalherrschaft der Parteien entwickelt.
Verfassung für
eine neue Welt
Nach dem Ende der Epoche der großen Industrie betreten wir eine komplexe
neue Welt. In ihr wird Wissen immer wichtiger. Bisher haben weder
Deutschland noch Europa Antworten auf die neuen sozialen, ökologischen und
ökonomischen Herausforderungen gefunden. Denn diese Antworten erfordern eine
neue Ordnung.
Eine Verfassung
vom Volk schafft einen Ordnungsrahmen für eine Demokratie mit Zukunft. Sie
ist die Voraussetzung für Meinungsvielfalt, Kreativität und Entschlossenheit
bei der Lösung wichtiger Aufgaben. Bürgerinnen und Bürger brauchen eine
reale Möglichkeit, ihr Wissen, ihre Kompetenz, aber auch das Wollen und
Fühlen in politische Entscheidungen einzubringen. Erst eine Verfassung vom
Volk ist eine wirksame Voraussetzung, um eine demokratische und
zukunftsfähige Gesellschaft zu schaffen. Nur eigenes Handeln befreit uns aus
der passiven Lage.
Heinz Kruse,
Hannover im November 2020
|